Lockdown 1.5
Mein Timing in diesem Jahr ist makellos: wo ein Lockdown oder ein Risikogebiet ist, da bin auch ich.
Mit einem (negativen) Covid-19 Test im Gepäck bin ich nebst 13 Gästen und zwei unterforderten Flugbegleitern in einem übersichtlich dimensionierten Regionaljet der gebeutelten Lufthansa auf dem Weg nach Deutschland. Just heute wurde der Wellenbrecher-Lockdown ab kommender Woche verkündet. Mit ein wenig Glück schaffe ich es vorher zurück.
Es gibt Schokolade und Formulare. Ich fülle sicherheitshalber mit dem eigenen Stift aus.
Der Flughafen glich einem Lost Place. Riesige, leere Hallen. Geschlossene Cafés und Läden. Gelangweilte Grenzpolizei, aber auch die in kleinen Mengen. Raum ohne Volk eben. Immerhin hat man so mehr Zeit und Aufmerksamkeit, auf dem Mobiltelefon den parallel laufenden Crash am Aktienmarkt zu verfolgen und darüber nachzudenken, was man sich von dem Geld, das man nun nicht mehr hat, alles hätte kaufen können. Immerhin steigt der Bitcoin. Wenn das doch nur einmal von Dauer wäre.
Im postsozialistischen Ausland war Corona, jedenfalls tagsüber, nur ein Randthema. Irgendwie da, aber auch nicht. Natürlich gibt es eine Maskenpflicht und in Restaurants wird am Eingang Fieber gemessen. Von diesen Unpässlichkeiten abgesehen lässt man sich auf dem Balkan aber den Tag nicht vermiesen. Das Wetter ist ja gut und der Rakia schmeckt. Ein paar Geschäfte müssen verschoben oder abgesagt werden, aber was soll’s: mehr Zeit zum Trinken.
Es ist Herbst und was der Winter bringt, der ja schon in guten Jahren voller Dunkelheit, Nieselregen und Grippe ist, das bleibt zu sehen. Gut möglich, dass die Investition in einen Satz neuer Winterreifen sich nicht auszahlen wird, weil das Auto vor dem Frühjahr nicht mehr bewegt werden wird. Andererseits: sicher ist sicher. Es bringt auch nichts, sich ohne Covid-19 den Hals auf der Straße zu brechen und dann dennoch tot zu sein.
Deutschland ist wieder ein gespaltenes Land. Es gibt die, denen keine Maßnahme weit genug geht. Und die, denen selbst klitzekleinste Misslichkeiten wie das Tragen einer Maske eine unerträgliche Zumutung sind. In den sozialen Medien beschimpft man sich, und überhaupt fühlt sich eigentlich alles wie 2015 an. Wie auch damals ist man mit einer vermittelnden Meinung schlicht der, der von beiden Seiten für doof gehalten wird.
„Bitte beachten Sie, dass sich der nächstgelegene Notausgang hinter Ihnen befinden kann“, sagt der Steward. Stimmt. Im Spätsommer, da wäre die richtige Zeit für einen Ausstieg gewesen. Irgendwohin, wo es warm und das Meer nicht weiter als 150 Meter weg ist. Die Kanaren bieten sich an, da ist immer Frühling.
Wie wird das Land, wie wird Europa und wie werden unsere Leben im Frühjahr aussehen? Wie immer nur in grau? Ohne Bars und Clubs und Konzerte, aber mit vielen Artefakten aus dem Notstand in Gesetzen und Köpfen? Ich denke, die Gesellschaft wird eine andere sein. Und ich meine nicht, dass die Leute nicht mehr reisen oder ins Büro gehen werden, das wird sich einpendeln, wenn auch vielleicht auf einem anderen Gleichgewichtsniveau. Aber werden die Leute noch Lust auf das Ungewisse haben? Den Mut, sich selbständig zu machen? Oder werden sie einen sozialversicherungspflichten Job anstreben, weil man da, wenn’s hart auf hart kommt, Kurzarbeitergeld erhält?
Denn darauf läuft, ob nun gewollt oder nicht, vieles hinaus. Das bunte, chaotische, schwer zu fassende, das stirbt. Was Struktur hat, am besten ein Konzern ist, das wird gerettet. Und natürlich gefällt mir das als Aktionär. Wenn ich durch die nach 21:00 Uhr abgeschalteten Städte laufen, finde ich es weniger schön. Und auf dem Land sterben die Wildbienen ja dennoch.